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Notizen aus Leipzig

Geschichte Rezension Rußland

Gelesen: Timothy Snyder: bloodlands - Europa zwischen Hitler und Stalin
Drei Tragödien bestimmen die Geschichte Europas

1. März 2012 Gepostet von Unknown 0 Kommentare
Drei Tragödien bestimmen die Geschichte Europas 

Normalerweise ernten wissenschaftliche Werke selten diejenige Aufmerksamkeit der nichtakademischen Welt, die ihnen ob des Inhaltes zustehen müsste. Das aktuelle Buch »Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin« des amerikanischen Historikers Timothy Snyder stellt hier sicherlich eine Ausnahme dar, wurde es doch gerade in Deutschland auch in den großen Feuilletons intensiv diskutiert. Und nach seiner Nominierung für den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ist ihm wohl erneut größere Aufmerksamkeit sicher. Warum das? Snyder untersucht in "Bloodlands" drei miteinander eng verknüpfte geschichtliche Tragödien, die selten so zusammengebracht werden: Stalins Terrorkampagnen, den Holocaust und den Hungerkrieg gegen Kriegsgefangene und die nichtjüdische Bevölkerung. Diese großen menschlichen Tragödien fanden in einem relativ eng begrenzten Raum statt: im Osten des 1920 neu gegründeten Königreichs Polen und im Westen der Sowjetunion, vor allem in Weißrussland und der Ukraine. Diese Gebiete sind fast deckungsgleich mit dem damaligen jüdischen Siedlungsgebiet in Polen und der Sowjetunion. Auf diesem relativ kleinen Territorium starben in den Jahren von ca. 1930 bis 1945 nahezu 14 Millionen Menschen, nicht in kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern weil über ihren Tod „entschieden“ wurde. Sie verhungerten, wurden vergast oder erschossen. Snyder eröffnet somit einen neuen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, einen Blick, in dem sich erschließt, dass vor dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion Stalin dort bereits Millionen Menschen getötet hatte- außerhalb eines Krieges, während des „Großen Terrors“ der Jahre 1937/1938 und in den unvorstellbaren Hungertragödien in der Kornkammer Europas, der Ukraine. Seit dem Sputnik-Verbot 1988, in dem erstmals aus den durch Gorbatschow geöffneten Archiven der Geheimpakt zwischen Hitler und Stalin bekannter wurde, ist es ein immer noch oft vergessener Aspekt, dass Polen von den Nazis und der Roten Armee in einer parallelen Aktion angegriffen wurde. Diese neue Akzentuierung ist wichtig, da es oft vergessen wird in unserer Erinnerung. In den 30er Jahren begann Stalins gigantische Landwirtschaftsumwälzung, die in einen „Krieg“ gegen die sogenannten Kulaken gipfelte. Dieser „Krieg“ wandelte sich aber schnell zu einem Krieg gegen die Landbevölkerung, was Ende 1933 zu einer massiven Hungersnot führte. Im selben Jahr kam in Deutschland Hitler an die Macht und begann sein Projekt „Lebensraum im Osten“. Dorthin sollten tausende Deutsche ziehen – dafür sollte zunächst die dort lebende Bevölkerung eliminiert werden. Allein in der Ukraine starben unter Stalin in den 30er Jahren ca. 4 Millionen Menschen durch menschgemachte Hungersnöte. 1931 wurde als Resultat eines unsinnig hohen Abgabesolls über die Hälfte des Weizens aus der Ukraine abtransportiert. Viele Kolchosen konnten ihre Ablieferungsquoten nur erfüllen, indem sie – auf Stalins Befehl – ihr Saatgut abgaben. Das führte im kommenden Jahr zu einer extremen Mangelernte. Selbst die ukrainische KP bat Stalin angesichts der drückenden Probleme um Aufschub: Fehlendes Saatgut, späte Aussaat, schlechtes Wetter, zu wenig Maschinen, Chaos von der letzten Phase der Kollektivierung Ende 1931 und hungrige Bauern, die nicht mehr arbeiten konnten. Doch Stalin sah in diesen Problemen nur den Erfolg von Saboteuren. Entsprechend mussten die Menschen leiden. Snyders Analyse zeigt, dass Stalin sehr wohl wusste, was in dieser Zeit in der Ukraine geschah, er beschreibt unvorstellbar grausame Szenen, selbst die eigentlich unbeschreiblichen Szenarien des Kannibalismus, in den die verzweifelten Menschen getrieben wurden. Eine Frau aus Charkow erzählt: „Eines Tages waren die Kinder plötzlich still, wir drehten uns um, um zu sehen, was los war, und sie aßen das kleinste Kind, den kleinen Petrus. Sie rissen ihm Fleischfetzen ab und aßen sie.“ Dann kamen die Nazis. Bevor in den Gaskammern von Auschwitz ab 1943 Millionen Juden vergast wurden, hatten die sog. Einsatzgruppen der Nazis bereits hinter der Front gewütet. Sie zogen von Dorf zu Dorf, mordeten, erschossen, und warfen die Leichen in Massengräber. Fast alle polnischen Juden waren ihnen zum Opfer gefallen. Das bedeutet, dass ca. die Hälfte der Morde an der jüdischen Bevölkerung bereits vor dem industriellen Massenmord in den Tötungslagern Auschwitz, Bergen-Belsen und Treblinka stattfand. Snyder verweist darauf, dass die Juden 1933 etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung ausgemacht hatten, von denen vielen noch in den ersten Jahren der faschistischen Terrorherrschaft die Flucht gelang. Anders in den „bloodlands“, wo der Großteil der europäischen Juden lebte: Vier der sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden stammten aus dieser Region. Auch die anderen zwei Millionen, darunter 165.000 der in Deutschland verbliebenen deutschen Juden, wurden zu ihrer Ermordung in die Todeslager der „bloodlands“ gebracht. Die dritte grausame Methode, die Millionen in diesem Gebiet das Leben kostete, war die primitive Methode des Aushungerns. Allein ca. drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene starben in Kriegsgefangenenlagern auf polnischem Territorium an Hunger. Zudem zeigt Snyder den dramatischen Verlust für Polen auf, denn neben den von Stalin angeordneten Massenerschießungen von Katyn, denen Tausende polnische Offiziere zum Opfer fielen, ermordeten die Nazis mindestens zehnmal so viele polnische Offiziere, Akademiker und Hochgebildete. Die unfassbaren Zahlen der Opfer aller drei Verbrechen, mit denen Snyder in seinem Buch argumentiert, sind nicht neu. Aber die Verbrechen in dieser Form neu zusammen zu bringen, sie zusammen zu denken und damit die „bloodlands“ als Raum sichtbar zu machen – darin besteht das große Verdienst der gut lesbaren Analyse von Snyder. Das gemeinsame Sichtbarmachen der ukrainischen Hungersnot, des Holocaust, Stalins Massenerschießungen, des kalkulierten Hungertodes sowjetischer Kriegsgefangener, der ethnischen Säuberungen eröffnet eine neue Perspektive und weckt ein tieferes Verständnis für diese Schreckensgeschichte. Und sei daher jedem zur Lektüre nahegelegt:

Menr hier
http://www.guardian.co.uk/books/2010/oct/09/bloodlands-stalin-timothy-snyder-review http://www.nybooks.com/articles/archives/2010/nov/11/worst-madness/ http://www.thenation.com/article/156518/between-hitler-and-stalin?page=0,2
http://www.eurozine.com/articles/2010-02-18-snyder-de.html

Sehr interessantes Interview mit Timothy Snydeer im Standard hier
http://derstandard.at/1291454186902/Interview-Nicht-die-Nazis-durch-die-Sowjets-erklaeren
Geschichte
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Unknown
Liest gern und viel und schreibt auch darüber.

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