Jammern auf hohem Niveau
Das erste Buch von Katja Kullmann habe ich als Mann, ob des etwas verstörenden Titels Generation Ally, nicht gelesen. Das aktuelle Buch Echtleben: Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben weckte mehr Interesse. Es bleibt leider etwas unklar, was Kullmann mit dem Buch erreichen will. Es ist kein Roman, aber auch kein Sachbuch. Kullmann schildert in der Ich-Perspektive die Schwierigkeiten des modernen Lebens. Und dabei spart sie noch – als Frau um die 40 – die diese Generation betreffenden Kinder- und Familienthemen und die daraus resultierenden Probleme aus. Aber die Schwierigkeiten des Lebens genügen auch so schon. Denn, wie alle um 1970 Geborenen, hat sie in Zeiten der „verschärften kapitalistischen Flexibilisierung“ ganz schön zu tun. Optimistisch beginnend als sogenannte „Freelancerin“, d.h. als Freiberuflerin ohne betrieblichen Hintergrund, als Kleinstunternehmerin, die nichts zu verkaufen hat als ihre journalistischen Texte, und lediglich ihre Arbeitskraft am Markt anbieten kann, wird sie bald mit den Niederungen und Unsicherheiten konfrontiert, die entstehen, wenn Aufträge storniert werden und wegbrechen – und auf einmal gar kein Geld mehr da ist. Die Szenen, die sie als HartzIV-Empfängerin auf dem Arbeitsamt erlebt und beschreibt, gehören mit zu den eindruckvollsten des Buches. Denn auf einmal ist es gar nicht mehr so einfach Würde zu behalten, und alle die, die sich auf dem Amt einfinden müssen, sind ihr weder so fern, dass sie aus der Distanz eine „gelungene Reportage“ schreiben könnte, noch werden sie von ihr als gänzlich Gestrauchelte gesehen – immerhin beantragt sie ja auch gerade Unterstützungsleistungen.
Was auffällt: Permanente Vorläufigkeit – in Arbeits-, Freundschafts- wie in Liebesbeziehungen – „noch zwei, drei Jahre, dann sehen wir weiter“ – scheinen ein Merkmal unserer Zeit zu sein. Offenbar gezwungenermaßen, denn Flexibilität ist wohl die wichtigste der abverlangten „Tugenden“. Bildung, Kreativität und Fleiß, die allseits gelobten Individualtugenden des Spätkapitalismus dagegen – sie rechnen sich offenbar nicht. Denn auch Kullmann scheitert trotz höchster Qualifizierung und Ehrgeiz.
Kullmann hinterfragt deswegen - wenn Wirtschaftskrisen, Flexibilisierung und Erosion der Mittelschicht den Takt vorgeben - auf der persönlichen Ebene: Bin ich noch bereit, meine Ideale zu verraten, um meinen sozialen Status zu halten? Was ist der Ausweg, wenn mein individualisiertes Lebenskonzept in die Sackgasse führt?
Beim Lesen fällt auf, hier jammert jemand auf hohem Niveau. Denn dass freie Autoren es schwer haben, sich durch die Arbeit am Papier am Leben zu halten, ist unbestritten. Aber es gibt Menschen, die es noch viel schwerer haben. Der letzte UN-Bericht vom Juli diesen Jahres kritisierte schwere Versäumnisse bei der deutschen Sozialpolitik, wie über Generationen währende Bildungsbenachteiligung, Kinderarmut, ein Hartz-IV-System, das keinen angemessenen Lebensstandard garantiert und mit seinen Sanktionsklauseln gegen das Recht auf Berufsfreiheit verstößt. 13 Prozent der Deutschen leben unter der Armutsgrenze. Diese Menschen haben es deutlich schwerer als die Autorin.
Es bleibt festzuhalten, es handelt sich um ein soziologisches und politisches Buch. Aber es ist eben kein Roman, sondern wohl vor allem Lamentier-Literatur, ohne tiefere Erkenntnis. Und es geht offenbar weniger um die Suche nach einer Haltung, als vielmehr um die Suche mit einer Haltung Geld zu verdienen. Aber das ist auch schon schwer genug.
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