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Notizen aus Leipzig

Keine Illusionen

9. November 2012 Gepostet von Unknown 0 Kommentare

"Miss Lonelyhearts" als Spiegel des Amerikas der Depression

Erstmals 1933 erschienen, bleibt der Roman "Miss Lonelyhearts" von Nathanael West ein ziemlich verstörendes Meisterwerk moderner amerikanischer Literatur. Ein namenloser Kolumnist schreibt in einer Zeitungskolumne Hinweise und Ratschläge zum modernen Leben. Doch irgendwann wird es ihm zu viel, er zerbricht förmlich unter der Unzahl an Briefen, die teils unvorstellbares Leid, teils alltägliche Probleme beschreiben. Er findet keine Antworten mehr: Was soll er dem Jungen sagen, dessen Onkel die behinderte Schwester missbraucht? Oder dem Mädchen, das ohne Nase geboren wurde?

Der Roman steigt ein, als er bemerkt, dass er es nicht mehr schafft, zu heucheln und zu bluffen. Sein Versuch, mithilfe der Religion Antworten zu finden, misslingt; er stürzt sich in romantische Affären, in die Kunst und in die Gewalt – und schließlich in den Alkohol. Es endet in Wahnsinn und Tod, hervorgerufen durch seine eigene spirituelle Leere. Sein „Christus-Komplex“ kostet ihn das Leben. Er macht sich ernsthafte Gedanken, wie man das moralische Dilemma löst, tröstend auf menschliches Leid einzugehen – und scheitert. Scheitert auf der ganzen Linie, denn indem er beispielsweise zunächst in einer Art „Nächstenliebe“ mit einer Briefschreiberin schläft, obwohl sie ihn anwidert und er sie entsprechend beim nächsten Mal wegstößt und sogar verprügelt, stürzt er nicht nur sich – der Mann der Briefschreiberin will ihn dann erschießen – sondern auch das Paar noch mehr ins Unglück.

Das schwierigste war wohl die Erzählweise, verstirbt doch der namenlose Kolumnist am Ende des Buches, es ist aber aus der Ich-Perspektive geschrieben. Auch deswegen hat West an dem schmalen Buch über vier Jahre geschrieben. Als Hotelmanager soll er angeblich auch Briefe seiner Gäste gelesen haben. Aber insbesondere dass er 1929 einige Briefe an die tatsächliche „Susan Chester“, das Vorbild der „Miss Lonelyheart“, lesen konnte, versorgte ihn mit ausreichend Material für den schmalen Roman.

Verschiedene Kapitel erschienen zunächst als Fortsetzungsroman in verschiedenen Zeitschriften, der komplette Roman erschien 1933 bei Horace Liveright, New York. Leider ging der Verlag noch während der Auslieferung der ersten Exemplare pleite, sodass nach positiven Besprechungen keine Bücher mehr verkauft wurden. Immerhin gelang es West, die Rechte aus der Konkursmasse zu retten, aber die Nachauflage bei Harcourt ein Jahr später kam zu spät, das Interesse war erloschen. Schade, denn es handelt sich um ein klassisches amerikanisches modernes Meisterwerk. "Miss Lonelyhearts" wurde viermal unter verschiedenen Namen verfilmt, am bemerkenswertesten vielleicht in der Version mit Montgomery Clift als „Adam White“ in der Version von 1959.

Nathan Wallenstein Weinstein wurde 1903 in New York als Sohn jüdischer Immigranten aus Russland geboren. 1926 änderte er seinen Namen in Nathanael West. In seinem kurzen Leben, er starb 1940 bei einem Verkehrsunfall auf dem Weg zur Beerdigung seines Freundes F. Scott Fitzgerald, schrieb er nur vier Romane, aber eine Unzahl an Drehbüchern für die Traumfabrik Hollywood. Die Romane zeigten, vielleicht genauso wie die seines Freundes Fitzgerald, die düstere, trübe Seite des sogenannten Amerikanischen Traumes. "Miss Lonelyhearts" und der unvollendet gebliebene „The Last Tycoon” von F. Scott Fitzgerald blieben daher vielleicht die finitiven Romane, die das Amerika der Depression beschrieben. Der Manesse-Verlag bringt 50 Jahre nach der letzten deutschen Ausgabe eine Neuübersetzung mit einem großartigen Nachwort von Dieter E. Zimmer heraus – das ist nicht genug zu würdigen.

Nathanael West: Miss Lonelyhearts. Manesse Verlag, 176 Seiten, gebunden. 19,95 Euro. 

Bild http://kittypackard.com/montgomery-clift-pictorial-of-the-month-2/
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Unknown
Liest gern und viel und schreibt auch darüber.

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