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Notizen aus Leipzig

Gelesen: Bernd Cailloux Gutgeschriebene Verluste

6. Juni 2012 Gepostet von Unknown 0 Kommentare

Alternde Achtundsechziger.

Roman mémoire lautet der Untertitel von Bernd Cailloux´neuem Buch. Und das nicht zu Unrecht, schildert Callioux doch ein sehr deutsches Leben im 20 Jahrhundert, das mit seinem eigenen viel gemein hat. Entlang der 68er Befreiungen, entlang seiner zahlreichen Liebschaften tritt ein Schicksal zutage. Ein Schicksal, das viele in seiner Generation – der Ich-Erzähler ist 61 – teilen. Als Flüchtlingskind geboren in der Nähe von Erfurt, im Alter von vier Wochen von seiner Mutter verlassen, flieht er im Zuge des Jahres 1968 in die „freie“  Stadt Berlin. Westberlin konkreter. Frei deswegen, da sie ja von den Westallierten diesen Status zugeschrieben bekam, aber auch wahrscheinlich deswegen frei, da in den 60er und 70er Jahren die Jugendlichen aus der alten BRD dorthin flohen. Alles war ein bisschen freier, das geteilte Berlin blieb Großstadt. Die Subkulturen der 68, Musik, Mode, Kunst: Berlin hatte Glamour. Und der Icherzähler blieb in diesen Subkulturen hängen, auch wenn sich das Leben seitdem gewandelt hat. Was er übrigbehalten hat als Anti-Bougeois? Die rebellische Haltung. Ironisch, ja teilweise zynisch, wird das beschrieben, etwa wenn die vormaligen Gefährten oder Geliebten ins Eigenheim am Rande der Stadt ziehen. Er hat nichts, was diesem Klischee entsprechen würde: kein Eigenheim, keine Rentenansprüche.
Beklemmend die Szenen, wenn er als  Zauberlehrling der Drogenexperimente lediglich den Virus zurückbehält. Mitte der 70er war das noch nicht AIDS, oder HIV, sondern Hepatitis, HBV. Mehr als 40 Jahre danach holen ihn seine Eskapaden ein. Doch mit welcher ironischen Distanz er seine Krankengeschichte erzählt, ist großartig. Weniger großartig ist die Beschreibung der aktuellen Liebe. Auch wenn Frauen eine große Rolle in seinem Leen spielen – nach Berlin folgte der einer Frau – wird nicht klar, was das reizvolle an dieser Liebschaft ausmacht.
Im Vergleich hat er noch Glück gehabt. Den Nachbarn, der seit 20 Jahren zu Hause ist und von einer kleinen Invalidenrente lebt, hat es vergleichweise schlimmer getroffen. Wieder die Liebe. Beim Verfolgen seiner Freundin, die vermutlich fremdging, stürzte er von den Klippen Ibizas – auch ein schönes Klischee, aber so passend die Hippie-Insel. Dem folgten nach 6 Wochen Krankheit die >Kündigung und dann nichts mehr. 20 Jahre zu Hause in dauerhafter Einsamkeit. Nur noch das Musikhören der Hits dieser Tage – the green leaves of summer, they are gone.

Unser Held wird eingeladen, die 68er werden akademisch aufgearbeitet. Was haben sie dem Land gebracht? Die Scheckkarte –wirft er völlig zu Recht in der Podiumsdiskussion der Uni Konstanz, wozu er geladen wird ein. Doch gegen den ehemaligen Bombenbauer der RAF – auch eine Folge von 68 – ist damit kein Ankommen. „Wer so bildhaft mit dem unsterblichen Bedürfnis nach Anarchie spielte, wer die heimlichen Sehnsüchte nach Rebellentum so direkt ansprach, dem lag jedes Publikum zu Füßen.“ Seine Stimme geht unter.

Was bleibt? Ein sehr deutsches Schicksal, alleingelassen in den Wirren des letzten Weltkrieges, auf der Suche nach Liebe und Sinn mitten in den wilden 6oern, ein kometenhafter Aufstieg als linker Unternehmer 1986 und eine ziemliche Stille nach 1989. Nicht untypisch, aber …

Bernd Cailloux kann großartig vom Altern erzählen, von Krankheit, vom Herumsitzen in Cafes und von Bindungsunfähigkeit, kurz: aus seinem Leben. Lesenswert.


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Unknown
Liest gern und viel und schreibt auch darüber.

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