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Notizen aus Leipzig

Gelesen: David Albahari - Die Ohrfeige

16. Dezember 2011 Gepostet von Unknown 0 Kommentare
Ein überaus beeindruckendes Buch. Nach einem Tipp von H.  bin ich von diesem Roman schlichtweg begeistert, kommt ja nicht so oft vor. Ich weiß gar nicht, liegt es daran, dass er so kafkaesk die letzten Kriege in Europa schildert? Der Erzähler hat viel Zeit. Einmal die Woche schreibt er eine Kolumne für die Belgrader Zeitung Minut, ansonsten macht ernicht viel. Der alltägliche morgendliche Spaziergang am Ufer der Donau ist so ein ritueller Zeitvertreib. Dann vielleicht die mit viel Grasunterstützung geführten Gespräche mit seinem besten - und einzigen Freund Marko, viel lesen, alte Platten von Cream, den Beatles und Marianne Faithfull hören. Doch dann weckt bis eine zufällige Beobachtung seine Neugier: Ein junger Mann ohrfeigt eine junge Frau...und ein Reigen aus kabbalistischen und verschwörungstheoretischen Elemeneten bricht los - alles eingebettet in den steigenden Hass in Serbien, auf Albaner, Kroaten und ... und Juden. Gut wäre auf jeden fall ein profundes Wissen der Kabbale und der jüdischen Mythologie. Aber auch so kann man das - und ich mache das wahrlich nicht oft - nochmals lesen.

mehr beim perlentaucher

Ein Textausschnitt verdeutlicht die Qualität...

"Ich muss jetzt auf einige andere Ereignisse eingehen, sonst fallen sie noch unter den Tisch. Diese Geschichte hat ohnehin zu viele Stränge und wird wohl nie die Form einer richtigen Erzählung bekommen. Erzählungen sind geordnet, die Stränge in ihnen harmonisch angelegt, aber was ich hier biete, ist eher ein Abbild des Lebens, das immer chaotisch ist, da sich in ihm immer viel zu viele Dinge auf einmal ereignen. Jemand bemerkte einmal, das Leben sei wie ein Puppentheater, in dem mehrere Fäden gerissen sind, daher versuche jeder von uns wie ein unglückseliger Puppenspieler, die gerissenen Fäden wieder zusammenzuknüpfen, wobei er ständig Fehler mache. Das Leben reduziert sieh auf das Entwirren der Fäden und noch mehr auf deren erneutes Zusammenknoten, nur dass diese an sich simple Handlung mit den Jahren immer schwieriger wird, die Finger werden dick und steif, die Augen schwächer, die Zähne fallen aus. Die Puppen taumeln auf der Bühne, heben die Arme statt der Beine, drehen den Kopf nach hinten, wenn es gilt, nach vorne zu schauen, suchen im Sommer Schatten, verlangen im Winter nach Schals und Handschuhen, leiden unter Blähungen, setzen zwei Paar Brillen auf, um die Buchstaben zu entziffern, aber auch das reicht nicht aus, und so lesen sie nur noch die Schlagzeilen und rätseln dann, was wohl in den  Zeitungsartikeln steht, wodurch ihre Welt immer mehr zum Produkt ihrer Phantasie wird, was vielleicht auch gut ist, denn danach kommt der Augenblick, in dem alles unwichtig wird, und dem Puppenspieler nichts anderes mehr bleibt, als den Faden, an dem die Puppen hängen."

Und noch ein paar Rezensionen

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 29.04.2008

David Albaharis Roman "Die Ohrfeige" hat Rezensent Sascha Michel überaus beeindruckt. Er würdigt ihn als eines der "kühnsten" Bücher des Autors, das ungemein komplex von der Milosevic-Ära in Serbien handelt. Die Ausgangssituation - ein Journalist beobachtet, wie eine junge Frau geohrfeigt wird, und schreibt Jahre später im Exil nieder, was diese Beobachtung bei ihm ausgelöst hat - scheint ihm zwar einfach und unspektakulär. Der Strudel der Ereignisse, in der der Protagonist hineingezogen wird, ist in seinen Augen dann aber höchst verwickelt, ja "unergründlich": die Grenzen von Einbildung und Wirklichkeit, von Paranoia und echter Gefahr verwischten immer mehr. So sieht Michel in dem Roman auch ein Buch über tiefen Zweifel an Sinnstiftung und Welterklärung überhaupt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 05.02.2008

Mit hohem Lob bedenkt Sonja Vogel diesen in Belgrad des Jahres 1998 spielenden Roman David Albaharis um einen jungen Journalisten, der durch eine anscheinend eigens für ihn inszenierte Ohrfeige in den Sog merkwürdiger Ereignisse gerät und dadurch zunehmend paranoide Züge annimmt. Im Verlauf der überaus "spannend" geschriebenen und "kunstvoll konstruierten" Geschichte, die Antisemitismus und Vertreibung im Jugoslawien der Bürgerkriege thematisiert, verwischen sich für Vogel mehr und mehr die Grenzen zwischen Einbildung und real Erlebtem, bis auch der Leser nicht mehr weiß, was wirklich passiert und was sich lediglich im Kopf des Protagonisten abspielt. Der Leser müsse selbst diese Grenzen durchdringen. Für Vogel ein "grandioser Roman".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2008

Seit David Albahari im Exil im Kanada lebt, hat er sich von einem begabten Popliteraten zu einem ernsthaften Autor gewandelt, der sich "tiefgründig" mit dem Niedergang Jugoslawiens beschäftigt, lobt Friedmar Apel. Zum Glück nicht nur tiefgründig, sondern auch gut geschrieben. Albahari gelinge es nämlich, die mündliche Tradition des jüdischen Erzählens mit der europäischen und amerikanischen Technik des "erinnernden Schreibens" zu fusionieren. Ein Belgrader Journalist verstrickt sich durch die Liebe zu einem jüdischen Mädchen in Verschwörungstheorien und Kabbala-Kreise. Anhand der Unterdrückung der Juden in Serbien zeichne Alabahari nicht nur ein Bild der serbischen Mentalität, sondern erschaffe auch ein "poetisches wie bewegendes Kunstwerk".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 24.01.2008

Als "Meisterwerk" und "grandiosen, am Rande des Wahnsinns delirierenden Monolog" feiert Rezensent Karl-Markus Gauß das neue Buch des in Kanada lebenden serbisch-jüdischen Autors und bekennt, tief in den von David Albahari virtuos konstruierten Strudel von Verschwörung und Gegenverschwörung geraten zu sein. Es geht Gauß zufolge um einen serbischen Journalisten und Schriftsteller, der eines Tages in den Sog rätselhafter Ereignisse gerät, die durch eine Ohrfeige ausgelöst werden, deren Zeuge Albaharis Held wird. Die Handlung sei so aberwitzig und verschlungen, dass er sich außerstande sehe, sie angemessen zu protokollieren, teilt uns der Rezensent atemberaubt mit. Denn die Geschichte führe den Leser auch tief in die Abgründe der jüdischen Geschichte auf dem Balkan, die Gauß zufolge auch eine Geschichte des Antisemitismus ist. Erlösung sei hier ebenso wenig wie Aufklärung zu erwarten, da Albahari seinen Roman meisterhaft in der Schwebe von "Politik und Kabbala, Aufklärung und planmäßiger Verwirrung, Erkenntnis und Rätsel" halte. Auch die Übersetzung von Mirjana und Klaus Wittmann wird für ihre "sprachschöpferische Intensität" hochgelobt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.10.2007

Das Thema "Innere Emigration" ist für Rezensent Hans-Peter Kunisch nicht durch. Wie minutiös und aktuell sich damit umgehen lässt, kann er an David Albaharis Buch studieren, das den Antisemitismus während des Balkankrieges behandelt. Dem Autor, findet Kunisch, kommt seine doppelte Perspektive (als in Kanada lebender Serbe) dabei zugute. Als Leser sieht sich Kunisch hier mit einem Erzählprinzip konfrontiert, das nicht versöhnend wirkt, sondern Konkretes immer wieder durch Vages, Tatsachen immer wieder durch Zweifel unterläuft und die Reaktionsweisen der Hauptfigur in krisenhaften Versuchsanordnungen ausstellt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 15.09.2007

Ein großes Meisterwerk annonciert der Rezensent Andreas Breitenstein. Spätestens mit diesem jüngsten Roman sei der 1994 aus Serbien nach Kanada exilierte Schriftsteller David Albahari endgültig unter den ganz Großen der Gegenwartsliteratur angekommen. Den Schilderungen des Rezensenten ist zu entnehmen, dass die Geschichte des Romans nicht nur überaus kompliziert ist, sondern dass einem der unzuverlässige Ich-Erzähler die Entscheidung, was darin Realität ist, was Halluzination, oftmals unmöglich macht. Alles beginnt mit der titelgebenden "Ohrfeige" auf offener Straße in Belgrad, deren Zeuge der Ich-Erzähler (er hat keinen Namen) wird. Eine Zeitungsannonce und weitere als Zeichen lesbare Vorkommnisse nähren den Verdacht, diese Ohrfeige sei extra für ihn inszeniert. Ein Manuskript kommt ins Spiel, es geht um Kabbalismus, serbischen Antisemitismus, "Seelenwanderung, Sphärenmusik, Zahlenmagie". All das aber verstehe der Autor, so der Rezensent, schillernd und uneindeutig zu einem Werk zu komponieren, in dem die Motive einander spiegeln und überlagern, sich der eindeutigen Auflösung widersetzen. Die Nähe zum Paradox rücke Albaharis Schreiben in die Nähe Kafkas, meint Breitenstein, der dieses Urteil offenkundig sehr ernst meint. Schließlich handelt es sich seiner Überzeugung nach um einen "unfassbar großen, unheimlich komplexen Roman".

via http://www.perlentaucher.de/buch/27833.html
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Unknown
Liest gern und viel und schreibt auch darüber.

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