gamat72

Notizen aus Leipzig

Hüsch gestorben

9. Dezember 2005 Gepostet von Unknown 0 Kommentare
via .Der Schockwellenreiter: Das Gedicht "Ein deutscher Lästerer" (07.12.2005) ist herrlich!° Das Gedicht ist von 1968, könnte aber auch heute geschrieben sein.

»Ich bin ein deutscher Lästerer«

(Hanns Dieter Hüsch, 1968)
Ich habe mich von Kindesbeinen an zu einem deutschen Lästerer entwickelt
Ich habe meinen deutschen Laufstall nicht verlassen
Ich habe schon mit einem Jahr gesprochen
Ich habe schon mit vierzehn Monaten einen guten Eindruck gemacht
Ich habe schon mit 36 Monaten mir meinen Scheitel selbst gekämmt
Ich habe niemals Obst gegessen, wenn es nicht vorher stundenlang gewaschen war — wer weiß, durch wieviel Hände dieser Apfel schon gegangen ist
Ich habe in der Schule meine Butterbrote immer aufgegessen
Ich habe im Kindergottesdienst immer ausgesehen wie ein Schaf
Ich habe meine deutschen Bleyle-Hosen bis zum »gehtnichtmehr« getragen
Ich habe als Sextaner zur Oberprima aufgeschaut
Ich habe als Primaner Professoren für die Allergrößten gehalten
Ich habe mich dann geistig auf dem laufenden gehalten
Ich habe mich dann musisch auf dem laufenden gehalten
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ich ein internationaler Mauschler bin
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ein Volk wie eine Art Familie ist
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß es Gott doch gar nicht gibt
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß es Gott doch gibt
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ein deutscher Soldat mehr wert ist als ein russischer Soldat
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ein deutsches Kind biologisch viel höher steht als ein Zigeunerkind
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ich ein weltfremder Idiot bin
Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ich doch mal zum Friseur gehen soll

Sie könnten sich auch mal die Haare schneiden lassen
Sie haben wohl kein Geld, zum Friseur zu gehen
Sie haben wohl wieder Ihre Trotzphase
Sie dürften mein Sohn nicht sein
Mit solchen Haaren
Ich müßte Ihr Chef sein
Mit solchen Haaren dürften Sie mir nicht kommen
Was sagen denn Ihre Eltern dazu
Bei Adolf hätten Sie so nicht herumlaufen können
Sie meinen wohl noch, das wäre schön

Würden Sie mir bitte einen Kamm kaufen

Ich kann Ihnen ja nichts sagen: Das ist diese Demokratie
Das ist ja dieser amerikanische Einfluß
Wenn ich Ihr Vater wäre, ich würde Sie mit einer Heckenschere in die Mache nehmen
Wir sind auch mit kurzen Haaren groß geworden
Das ist doch alles diese Überfremdung
Ein Jahr Arbeitsdienst und die Haare wären weg
Das ist doch wohl ganz einfach eine Sache des geringsten Anstands
Ihr Friseur hat sich wohl den Arm gebrochen?
Ihnen ist wohl gleichgültig, wie Sie aussehen?
Die Haare kann man sich doch wenigstens schneiden lassen
Wir hätten so nicht vor unseren Lehrer treten können
Ich kann Sie mit meinem Wagen rasch zum Friseur fahren

Ich habe mir dann sagen lassen müssen
daß Gottes Mühlen langsam mahlen
daß der gesunde Menschenverstand immer noch die Richtschnur ist
daß ich nicht soviel rauchen soll
daß eine deutsche Frau in erster Linie Mutter ist
daß die moderne Kunst krankhaft ist
daß ich Vater und Mutter ehren soll
daß schon der geringste Anstand verlangt, zuerst Deutscher und dann Mensch zu sein
daß ich nicht alles negativ sehen soll

Ich habe mir dann sagen lassen müssen, daß ich indifferent bin
daß ich einen zu einseitigen Standpunkt habe
daß ich gar keinen Standpunkt habe
daß ich doch gleich nach Moskau gehen soll
daß ich ein Kleinbürger bin
daß ich verwahrlost bin
daß ich dafür zu jung bin
daß so die Freiheit nicht aussieht

Daß ich gerade gehen soll
daß ich konsequent sein soll
daß ich in eine Partei gehen soll
daß ich meine Butterbrote aufessen soll
daß ich auch mal zum Friedhof gehen soll
daß ich nicht ungewaschenes Obst essen soll
daß ich einen guten Eindruck machen soll
daß ich wieder wie ein Kind werden soll
daß ich wieder in meinen Laufstall soll
daß ich den Mund halten soll
daß ich meinen deutschen Laufstall nicht verlassen soll.

Hanns Dieter Hüsch, der Barde vom linken Niederrhein ist gestern im Alter von 80 Jahren gestorben.
Share:

Unknown
Liest gern und viel und schreibt auch darüber.

0 Kommentare :

Kommentar veröffentlichen

Neuerer Post Älterer Post Startseite
Abonnieren Kommentare zum Post ( Atom )
  • Impressum

Popular Posts

  • Neuer Europa Verlag in Leipzig
    Der Europa Verlag wurde 1933 als Emigrantenverlag von E. Oprecht in Zürich gegründet, hatte ab 1946 seinen Sitz in Zürich und Wien, ab 1953 ...
  • "Mach Dich locker!" oder "Schlaf jetzt ein!"
    Ganz bestimmt meinen es die Verkünder der «Schlafkampagne» gut mit uns – gleichwohl stellt sich die Frage, ob sie mit dieser Diskurs-Explosi...
  • 13.700 Quadratmeter mehr Platz für Deutsche Bücherei in Leipzig
    13.700 Quadratmeter mehr Platz für Deutsche Bücherei in Leipzig schreibt das Börsenblatt Danach erhält die Deutsche Bücherei in Leipzig für...
  • Kinowelt verlässt offenbar Leipzig
    Seit der Übernahme der Leipziger Kinowelt durch StudioCanal rissen Spekulationen um einen Wegzug des Independents aus Leipzig nicht ab - nun...
  • Leipziger Universalgelehrter: Johann Adam Bergk
    Wenn sie nicht so teuer wären, würde ich mich gern mal in die Schriften dieses klugen, wohl etwas streitsüchtigen Kopfes vertiefen. Johann A...
  • Salinger bleibt verboten
    In einer großartigen Videoserie werden auf arte von Bücher vorgstellt. Bücher mit großem Einfluss.  Der Fänger im Roggen  von J.D. Salinge...
  • Lektüreliste 2016
    Jedes Jahr nehme ich mir vor, diese Liste etwas ordentlicher zu pflegen... Also wieder weitestgehend aus dem Gedächtnis meine Lektüre 2016....
  • Gelesen: Juli Zeh Schilf
    Image via Wikipedia Der nun mittlerweile gar nicht mehr so neue Rom,an von Juli Zeh - Schilf lässt mich mit, nunja, gespaltener Meinung zu...
  • Der Streit um das Paulinum
    Eine schöne Zusammenfassung des aktuellen Streits um die Glasscheibe im Paulinum kann man auf den Seiten des Humanistischen Pressedienstes n...
  • Tim Staffel : Heimweh
    Der zweite Roman von Tim Staffel, Heimweh hat mir ganz gut gefallen. Sicher kann man immer über die sehr moderne Sprache streiten, aber es w...

TAGS

Leipzig Buch Lesen Musik Geschichte Literatur Rezension Bibliothek Gesellschaft Sehenswert YouTube Fotografie Motorrad Kunst Mopped Leben Theater 20. Jahrhundert Architektur Kultur Buchmesse Film Tod Listen Zeitung 2.WK Dresden Galerie Kino Konzert Rußland Verlage Video Wissenschaft 19.Jahrhundert Bahn Blog Demographie Drucke Fahrad Faschismus Globalisierung Kneipe Mafia Sprache USA Web2.0 Zukunft 60s Beatles Berlin CalvinHobbes Drogen Internet Juli Zeh Lesung München Wohnen nato 21. Jahrhundert Alfred Grosser Arnold Zweig Basel Bayern Burma Comic Datenschutz Gedicht HansStruck Indie Interview Islam John Maynard Keynes Jürgen Habermas Kim Yong-Un Klang Lithographie Lyrik Magazin Medien Nick Hornby Nordkorea Otto Flake Paulinum Philosophie Reise Religion Rheinischer Merkur StveMcQueen TV Umwelt Urlaub Warschau Wissen Zyklon

Archiv

Powered by Blogger.

Wird geladen...

gamat72

gamat72

Lesenswert

  • http://leipzigblogs.de
  • Leipzig Bilder

Labels

Leipzig ( 77 ) Buch ( 73 ) Lesen ( 44 ) Geschichte ( 25 ) Rezension ( 21 ) Bibliothek ( 16 ) Gesellschaft ( 16 ) Motorrad ( 13 ) 20. Jahrhundert ( 7 ) Kultur ( 7 ) Konzert ( 4 ) 19.Jahrhundert ( 3 ) 21. Jahrhundert ( 1 )
© 2016 gamat72 | All rights reserved
Created By Responsive Blogger Templates | Distributed By Blogger Templates20